Wladimir Putin will Russland durch Krieg mächtiger machen, doch die Lage ist kritisch. Wie weit wird das Regime gehen? Und wie rational ist der Kremlchef noch? Diese Fragen beantwortet Experte Simon Koschut.Schwach und bedeutungslos – so sah Wladimir Putin Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991. Nun will der russische Machthaber das Imperium mit Gewalt restaurieren, für Putin eine höchst emotionale Angelegenheit. Simon Koschut forscht zu Emotionen in der internationalen Sicherheitspolitik. Im Gespräch erklärt der Politologe, warum Putin anders tickt als wir hofften, wie das russische Regime ihm gefällige Emotionen erzeugt und die offizielle Propaganda zunehmend mit der Realität in Konflikt gerät.t-online: Professor Koschut, welche Gefühlslage mag in Wladimir Putin geherrscht haben, als er den Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 befahl?Simon Koschut: Für Wladimir Putin war es sicherlich ein erhebendes Gefühl. Genau wie er haben sich große Teile der russischen Elite in einer Gedankenwelt eingerichtet, in der viel von Einkreisung, Ehrverletzung und Zurückweisung durch den Westen die Rede ist. Putin verspürte also wahrscheinlich ein starkes Rachebedürfnis.Nun befriedigt Putin entsprechende Gelüste nach “Revanche” mit dem Westen seit längerer Zeit. Der Krieg gegen die Ukraine kostet Russland aber auch gewaltige Verluste an Menschen und Ressourcen.Mit westlichen Vorstellungen von Rationalität kommen wir an dieser Stelle nicht weiter. Putin selbst betrachtet seine Handlungen keineswegs als irrational. Im autoritären und paternalistischen Russland herrschen andere Vorstellungen als hierzulande in unserer postmodernen Gesellschaft: Die Begriffe Ehre, Stärke und Männlichkeit sind dort anders definiert und in ihrer praktizierten Form viel positiver besetzt. Gewalt und Krieg sind für Putin offensichtlich legitime Mittel zur Durchsetzung russischer Interessen.Was er immer wieder bewiesen hat.Die Ukraine ist nicht das einzige Opfer dieser Gewaltbereitschaft gewesen, ja. Der zweite Krieg gegen Tschetschenien oder auch der gegen Georgien waren ebenso einschlägig. Insofern hätten wir vorgewarnt sein können.Simon Koschut, Jahrgang 1977, ist Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Sicherheitspolitik an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Der Politikwissenschaftler forscht unter anderem zu Emotionen in den internationalen Beziehungen und zur Rolle internationaler und regionaler Sicherheitsorganisationen.Die Rebellion des Söldnerführers Jewgeni Prigoschin überraschte wiederum den Kreml. Welche Beweggründe könnten den früher Putin-hörigen Prigoschin zur Rebellion veranlasst haben?Prigoschin handelte aus einem Gefühl der Wut und Enttäuschung heraus. Putin als sein einstiger Förderer hatte ihn zuvor zwar nicht komplett fallengelassen, aber offensichtlich hatte der Wagner-Chef mehr Unterstützung vom Kreml in der Auseinandersetzung mit der militärischen Führung unter Sergej Schoigu erwartet. Enttäuschte Hoffnungen sind in der Politik ebenso wie im alltäglichen Leben der größte emotionale Antreiber für Wut und Rache: das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Dies ist eine mögliche Erklärung für den Aufstand. Putin wiederum war ebenso zornig damals – davon können wir ausgehen.Im Westen gibt es immer noch Hoffnung, dass innerhalb Russlands angesichts hoher Verluste, militärischer Fehlschläge und westlicher Sanktionen Kriegsmüdigkeit oder besser noch gar Ungehorsam aufkommen könnte. Was halten Sie davon?Bislang hat sich das russische Regime – vom Aufstand der Wagner-Söldner abgesehen – als ziemlich stabil erwiesen. Putin mag nun geschwächt dastehen, am Ende ist er noch nicht. Es gibt auch keine Garantie dafür, dass ein Nachfolger den Krieg beenden würde. Das wäre innerhalb des russischen nationalen Narrativs den Eliten und der Bevölkerung ohne einen Sieg auch schwer vermittelbar.Das derzeitige russische Regime reklamiert innerhalb des besagten nationalen Narrativs eine besondere Mission für sich. Und zwar die Restauration des Imperiums – um jeden Preis. Bitte erklären Sie die zugrunde liegenden Mechanismen.Ein Narrativ ist eine sinnstiftende Erzählung, die aus kognitiven und emotionalen Faktoren besteht. Aus tatsächlichen Ereignissen werden generationenübergreifende Erzählungen generiert. Jede Nation verfügt über solche Erzählungen, das ist an sich keineswegs unüblich. Problematisch wird es, wenn diese Erzählung Nationalismus und Revanchismus propagiert. Die Verklärung des Sieges der Sowjetunion über Nazi-Deutschland wäre ein Ereignis der jüngeren Geschichte mit Bezug auf Russland, das sich hier nennen ließe.Ein Ereignis, das jedes Jahr in Russland am 9. Mai als “Tag des Sieges” im Sinne des Regimes zelebriert wird.
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